Bevor der erste Ton eines Musikstücks erklingt, ist Stille, und wenn der letzte Ton verhallt ist, kehrt das Schweigen zurück. Gibt es eine treffendere Metapher für das Dasein? Für das Leben? Dass sich in der Musik – neben der Mannigfaltigkeit elementarer Emotionen und Erfahrungen des Lebens – auch die Grenzerfahrungen an den Nahtstellen zum Schweigen widerspiegeln, ist somit ohne Erklärung verständlich. Diese Grenzerfahrung zum Nicht(mehr)sein, ja zum Abschied oder Tod vereint alle Werke unseres diesjährigen Herbstkonzertes.
Das hebräische Wort Yizkor bedeutet Erinnerung („In Memoriam“) und bezeichnet auch eine Gebetsform, die einen festen Platz im jüdischen Ritus hat. Der in Ungarn geborene Komponist Ödön Pártos, der 1938 nach Israel fliehen musste, schrieb dieses Werk 1949 als seine Antwort auf die Gräuel des Zweiten Weltkrieges. Er setzte sich intensiv mit der Musikkultur der osteuropäischen Juden auseinander, und so finden diese Eindrücke ihren Niederschlag in diesem Werk. Der verhangene Tonfall der Solo-Viola betet, bittet, trauert und mahnt uns, heute nicht zu vergessen: hinzuschauen auf die unfassbaren kollektiven Verbrechen, die wir immer wieder begangen haben und weiterhin begehen – und sei es nur, dass wir sie zulassen, indem wir sie nicht verhindern wollen oder können…
Johann Sebastian Bach stellt den erlösenden Aspekt des Todes in den Mittelpunkt seiner Kantate „Ich habe genug“. In diesem Programm erklingt die Fassung für Sopran, Flöte und Streicher, die nicht so bekannt ist wie die üblicherweise aufgeführte Fassung für Bass, Oboe und Streicher. In der ersten Arie mit der entschiedenen Feststellung „Ich habe genug!“ wird eine elegische, lebenssatte Stimmung heraufbeschworen. Interessant ist die melodische Verwandtschaft zur „Erbarme dich“-Arie der Matthäuspassion. Die zweite Arie „Schlummert ein, ihr matten Augen“ erzeugt mit ihrer Melodik ein Urvertrauen in den Vorgang des Sterbens, wie das Schlaflied einer Mutter am Bett des Kindes. Durch die Frauenstimme wird diese Wirkung der Musik besonders hervorgehoben. Der Titel des Konzertes ist der Schlussvers der zweiten Arie. In dem folgenden Rezitativ ist dann der Abschied gemacht, und die letzte Arie stimmt geradezu einen beschwingten Tonfall an: „Ich freue mich auf meinen Tod“. Die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits fußt auf einer tiefen religiösen christlichen Haltung. Die ausdrucksstarke Musik Bachs erzeugt jedoch eine berührende Identifikationsmöglichkeit jenseits aller Anschauungen und berührt die Grundfrage jeder menschlichen Existenz.
Die nach der Pause erklingenden zwei kurzen Stücke für Streichorchester des britischen Komponisten William Walton finden sich in der Musik zu der Shakespeare-Verfilmung Laurence Oliviers „Heinrich der V.“ aus dem Jahr 1944.
Die Trauer um den Tod Falstaffs (hier ein verehrter Heerführer) wird im ersten Satz „The death of Falstaff“ mit einer eindringlichen und pastosen Passacaglia dargestellt. Diese alte Musikform des frühen Barock hat per se einen ernsten und schwerwiegenden Ausdruck.
Das zweite, zärtlich zerbrechliche „Touch her soft lips and part“ beschreibt mit gedämpften Streichern eine Trennung von zwei Liebenden, die je nach Intensität des Gefühls schon als kleiner Tod empfunden werden kann, zumal wenn die Aussicht auf ein Wiedersehen nicht gesichert ist…
„Trauersinfonie“: so betitelte Joseph Haydn seine 44. Sinfonie in e-moll sicher nicht selbst, aber dieser Titel ist aus mehreren Gründen nicht ungerechtfertigt. Einmal wegen der Tonart, denn Haydn wählte Moll-Tonarten für seine Sinfonien selten und mit Bedacht. Zum Zweiten hat er sich den 3. Satz dieser Sinfonie (Adagio) als Musik für sein eigenes Begräbnis gewünscht. Diesem Wunsch ist man wohl auch nachgekommen. Beim Hören dieses Satzes bekommen wir einen Einblick in Haydns Gemütslage und Einstellung zu diesem Thema, ist doch der Tonfall dieser Musik, neben aller Elegie, hell und milde. Die geschickt dosierten**Holzbläsereinsätze öffnen einen transzendenten Raum, vergleichbar dem Himmel in einem Gemälde des Rokoko. Der erste Satz der Sinfonie jedoch beginnt äußerst spannungsreich, mit einem kurzatmigen aufbrausendem Unisono-Thema und einem kontrastierenden melancholischen, fast depressiven Gegengedanken. Diese Grundspannung, ja Zerrissenheit bestimmt mit barocken Sequenzen und überraschenden Wendungen den ganzen Satz: ein Unentschieden der Stimmungen und Emotionen. Der zweite Satz ist ein Menuett, dessen tänzerischer Charakter von einer ernsten Kontrapunktik kontrastiert wird. Die strenge kanonische Satzweise strahlt eine gewisse Kargheit aus. Der letzte Satz wartet mit einer aufbrausend trotzigen, fast zornigen Thematik auf, die den ganzen Satzverlauf bestimmt und mit zwei schroffen e-Moll-Akkorden endet.