1985 Herbstkonzert

8. Herbstkonzert am 23.11.1985

Paul Hindemith (1895 – 1963) Fünf Stücke für Streichorchester op. 44
– langsam – langsam, schnell – lebhaft – sehr langsam – lebhaft –
Johann Sebastian Bach
(1685 – 1750)
Brandenburgisches Konzert Nr. 4, G-Dur
– Allegro – Andante – Presto –
Solisten: Ingrid Haußmann, Altblockflöte I
Ulrike Haußmann, Altblockflöte II
Hannes Schmeisser, Violine
Felix Mendelssohn-Bartholdy
(1809 – 1847)
Sinfonie für Streicher Nr. 9, c-moll
– Grave – Allegro – Andante – Scherzo, La Suisse – Allegro vivace –
Joseph Haydn (1732 – 1809) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 11, D-Dur
– Vivace – Un poco Adagio – Rondo all’Ungherese, Allegro assai –
Solist: Friedemann Treutlein, Klavier
Dirigent: Hannes Schmeisser

Der Begriff »Gebrauchsmusik« taucht im deutschen Wortschatz zum ersten Mal Anfang der 20er-Jahre dieses Jahrhunderts auf. Eine Musik ist damit offensichtlich gemeint, die »gebraucht« wird, die auch zu bestimmten Zwecken erst neu geschaffen werden muss. Paul Hindemith – am 16. November wäre er neunzig Jahre alt geworden – zählt zu den wenigen Komponisten, die sich nicht nur der (esoterischen) Theorie, auch nicht nur der (elitären) künstlerischen Praxis, sondern sich der Pädagogik, der Breitenbildung verpflichtet gefühlt haben.

1927 wird Hindemith Kompositionslehrer an der Berliner Musikhochschule, sieben Jahre später verlässt er Deutschland und geht ins Exil. In dieser Zeit bis 1934 entstehen die Kompositionen, die sich bewusst an eine breite Öffentlichkeit, besonders an die Jugend, wenden. So erscheinen 1927 die Orchesterstücke op. 44 in einer Reihe »das Schulwerk«, 1930 das Kinder­piel »Wir bauen eine Stadt«, 1932 der »Plöner Musiktag« und eine Reihe von Liedern »für Singkreise«. Diese Werke sind heute in Deutschland nur noch selten zu hören. Entweder, weil sie für den Amateurmusikbereich unserer Tage zu schwer geworden sind (stilistisch wie technisch), oder weil es für die Verwalter unserer Kultur als unschicklich, als nicht standesgemäß gilt, sich mit den Mühen einer Pädagogik, einer Breitenarbeit zu befassen. Dabei gilt immer noch, dass die Jugend von heute das Konzertpublikum von morgen darstellen wird.

Gerade die Orchesterstücke op. 44 sind immer noch – wie vor sechzig Jahren – eine geeignete Brücke zwischen traditioneller, klassischer Hör-Erwartung und zeitgemäßer Musiksprache. Im Exil schreibt Paul Hindemith seine »Unterweisung im Tonsatz«. Dort ist zu lesen:

»… Ich habe den Übergang aus konservativer Schulung in eine neue Freiheit vielleicht gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue musste durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen. Heute scheint es mir, als sei die »geheime Ordnung der Töne« erlauscht. Nicht von den Starrsinnigen, die durch einfaches Verharren in der ihnen gewohnten Unord­nung Kraft vortäuschen, auch nicht von dem Tugendbold, der sich gar nicht erst in Versuchung begeben hat…«

Die sechs Brandenburgischen Konzerte sind Bach’s bedeutendster Beitrag zur Instrumentalmusik. Entstanden sind sie in Köthen, gewidmet hat Johann Sebastian Bach sie dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg, die Widmungspartitur trägt das Datum vom 24. März 1721.

Ganz so einfach, wie diese lexikalischen Umstände vermuten lassen, sind die historischen Verhältnisse jedoch nicht gewesen:

Die stilistischen Unterschiede der sechs Konzerte sind zu groß, als dass sie von vorneherein als Zyklus gedacht sein konnten. Eher ist anzunehmen, dass J. S. Bach nach eigenen Kriterien aus schon vorhandenen Werken diese sechs Konzerte zusammengestellt hat. Offenbar wollte der Komponist mit seinen »Concerts avec plusieurs instruments« zeigen, wie vielfältig der Typus eines Concerto grosso angelegt werden kann. Bach war nämlich seinen Zeitgenossen zwar als Organist, Improvisator und Musiker ein Begriff, nicht jedoch als Komponist. Zudem bedeutet diese Zeit um 1720 einen entscheidenden Einschnitt in Bach’s Leben: Bach war damals Hofkapellmeister des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen, wohnte mit seiner Familie im Schloss und seine musikalische Arbeit wurde von seinem Dienstherren tatkräftig unterstützt. (Bach sagt später einmal über diese Zeit, er habe gehofft, sein ganzes Leben in Köthen bleiben zu können).

Im Sommer 1720 stirbt jedoch Bach’s erste Frau, im Dezember 1721 heiratet er die am Köthener Hof angestellte Sängerin Anna Magdalena Wilcken. Ein Jahr später geht die Familie Bach nach Leipzig. Ein Schreiben Bach’s an seinen Jugendfreund Georg Erdmann erhellt diese Umstände:

»Es muste sich aber fügen, daß erwehnter Serenißimus sich mit einer Berenburgischen Prinzeßin vermählete; da es denn das Ansehen gewinnen wolte, als ob die musicalische Inclination bey besagtem Fürsten in etwas laulicht werden sollte, zumahlen die neue Fürstin schiene eine amuse zu seyn…«

Das Concerto Nr. 4 in G-Dur, das vermutlich 1720 entstanden ist, lässt noch nichts von dunklen Wolken ahnen. Es ist durchweg auf einen durchsichtigen zarten Klang angelegt: die Sologruppe besteht aus zwei Altblockflöten, denen eine virtuos gestaltete Violinstimme gegenübergestellt ist.

Das Orchester-Tutti ist überwiegend als klangliche Stütze verwendet. Im l. Satz, dreiteilig angelegt, dominieren die Blockflöten, dadurch wird der pastorale Charakter des Werkes unterstrichen. Ein ernstes Andante mit reizvollen Echowirkungen der Flötenstimmen leitet über zu einem heiteren Fugen-Finale. Auch hier zeigt sich der Fantasie-Reichtum des Komponisten, der ferne von jedem Formalismus neue musikalische Wirkungen ausprobiert: zwischen den eigentlichen Fugenteilen sind verspielte Intermezzi der Solo-Instrumente eingefügt – strenger und freier Satz verbinden sich hier zu einem poesievollen, neuen Eindruck.

Das musikalische Gesamtwerk von Felix Mendelssohn-Bartholdy ist heute noch, fast 150 Jahre nach seinem Tod, nur schwer zu überblicken. Zu Lebzeiten war er zwar eine der erfolgreichsten und bedeutendsten Persönlichkeiten im damaligen Kleinstaaten-Deutschland, danach galt seine Musik jedoch bald als unzeitgemäß und vor nicht allzu langer Zeit gar war sie politisch »untragbar«.

Mendelssohn selbst hat seine im Alter von 10 bis 15 Jahren komponierten Streicher-Sinfonien und Konzerte nie veröffentlicht. Sie waren für ihn immer nur Studien oder Stilübungen; aufgeführt wurden sie oft nur einmal bei den sogenannten »Sonntagsmusiken« im Berliner Elternhaus. Erst nach 1945 haben sich die Musikwissenschaft und vor allem Interpreten aus dem Ausland um eine Renaissance dieser Werke gekümmert; sie gelten heute als wichtiges Zeugnis für einen kompositorischen Entwicklungsprozess, der nur teilweise in der musikalischen Ausbildung zu erklären ist: mit sieben Jahren erhält Mendelssohn Klavierunterricht, drei Jahre später gibt er ein erstes öffentliches Konzert. Im musisch aufgeschlossenen Elternhaus begegnet er vielen Persönlichkeiten seinerzeit: im Oktober 1821 stellt Carl Friedrich Zelter dem Geheimen Rat von Goethe seinen Lieblingsschüler vor, Heinrich Heine nennt den Dreizehnjährigen ein »musikalisches Wunder«. Im Juli 1822 bricht die ganze Familie zu einem Sommeraufenthalt in die Schweiz auf; in Kassel begegnet dem jungen Mendelssohn der Hofkapellmeister Louis Spohr, in Frankfurt das Wunderkind Ferdinand Hiller. Die Reise in die Schweiz hat den Vierzehnjährigen sehr beeindruckt. Auch spätere Werke (wie die Hebriden-Ouvertüre, die Schottische oder Italienische Sinfonie) belegen, wie feinfühlig der Komponist auf Naturstimmungen reagiert hat. Auch diese »erste« Naturbegegnung hat in einer sogenannten »Schweizer Sinfonie« ihren musikalischen Niederschlag gefunden: Das Trio im Scherzo trägt die Überschrift »Schweizer Lied«. Das gesamte Opus, mehr eine Fantasie als eine Sinfonie im klassischen Sinne, belegt neben dem handwerklichen Können eine fast nicht fassbare Weite und Farbigkeit der Fantasie. Die Musik selbst lässt vergessen, dass ein Jugendlicher, ein Kind ihr Schöpfer gewesen ist.

1767 ist der 35jährige Joseph Haydn schon in ganz Europa ein bekannter Komponist: sein Name steht im Verzeichnis der großen Verlage, seine l. Sinfonie ist in Paris im Druck erschienen, sein Name wird in englischen Zeitungen genannt. Schon seit sechs Jahren ist er Vizekapellmeister beim Fürsten Esterhazy, gerade ist er sogar zum ersten Kapellmeister ernannt worden. 24 Jahre noch soll diese Zeit dauern, von der Haydn zurückblickend dann sagen soll:

»Ich erhielt Beifall, ich konnte als Chef des Orchesters Versuche machen, ich war von der Welt abgesondert, und so musste ich originell werden…«

Unbestritten ist heute noch die Bedeutung Haydns z. B. auf dem Gebiet der formalen Weiterentwicklung von Sinfonie und Streichquartett. Diese Bedeutung wird auch nicht geschmälert dadurch, dass Joseph Haydn viele Gelegenheitsarbeiten geschrieben hat. Die Funktion von Musik war im 18. Jahrhundert in erster Linie höfische Unterhaltungsmusik, kein bürgerliches Ritual. Die vierzehn Klavierkonzerte, die Haydn zugeschrieben werden, zählen zu dieser Art von Unterhaltungsmusik, wobei sogar ein Großteil dieser Werke gar nicht als Konzert im heutigen Sinn bezeichnet werden kann, weil sie schon von der Besetzung her eher Kammermusikwerke sind.

Darüber hinaus liegt Haydn solistische Virtuosität – wie sie einhundert Jahre später ein Franz Liszt kultivieren sollte – gänzlich ferne. Was an Virtuosität jedoch fehlt, wird aber gerade durch den unterhaltenden, unbeschwerten Grundzug dieser Werke wettgemacht. Am beliebtesten von allen ist das 1767 entstandene D-Dur-Konzert. Vielleicht deshalb, weil einem ruhigen Zwischensatz ein temperamentvoller Schluss-Satz folgt, in dem Solist und Orchester miteinander »konzertieren«. Beliebt, damals wie heute, diese Zigeunermusik -wohl aus der Umgebung von Schloss Esterhazy -, wenn auch in höfisch-stilisierter Form.

-ve-

Friedemann Treutlein

Friedemann Treutlein wurde 1949 in Reutlingen geboren. Er erhielt seine pianistische Ausbildung bei Hanna Waldenburger-Brandseph in Reutlingen, bei Eise Herold und Prof. Günter Louegk an der Musikhochschule in Stuttgart sowie bei Prof. Icharew Leningrad/Weimar. An das Studium der Schulmusik schloss sich die künstlerische Ausbildung in den Fächern Klavier und Klavierkammermusik an. Zur Zeit wirkt Friedemann Treutlein als Schulmusiker am Quenstedt-Gymnasium in Mössingen. Friedemann Treutlein wird zu Rundfunkaufnahmen eingeladen und entfaltet eine rege solistische und kammermusikalische Konzerttätigkeit.

Ulrike Haußmann

wurde in Esslingen geboren. Schon früh bekam sie Blockflöten- und Klavierunterricht. Wie ihre Schwester Ingrid lernte sie Sopranino-, Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassblockflöte spielen. Sie engagierte sich besonders im Quartettspiel. Von 1980 bis 1984 studierte sie Musik und Englisch an der Pädagogischen Hochschule in Reutlingen. Bis Juli 1985 arbeitete sie als Referendarin an der Realschule in Nürtingen. Ulrike Haußmann unterrichtet Blockflöte an der Musikschule der Stadt Nürtingen.

Ingrid Haußmann

wurde in Esslingen geboren. Ihre erste musikalische Ausbildung erhielt sie an der Musikschule Nürtingen in den Fächern Blockflöte, Blockflöten­kammermusik und Querflöte. Im Rahmen ihres Studiums der Schulmusik an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellenden Kunst in Stuttgart (1977-1982) studierte sie Querflöte bei Professor Hartmut Strebet und Blockflöte bei Gerhild Lieske-Homt. Seit Beendigung de s sich an das Studium anschließenden Referendariats arbeitet sie als Musiklehrerin an der Musikschule der Stadt Nürtingen. Sie unterrichtet Querflöte, Blockflöte und leitet ein Holzbläser und ein Blockflötenensemble.