Jubiläumskonzert
am 16.11.2002 in der Stadthalle Metzingen
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Beim 25. Herbstkonzert des Kammerorchesters Metzingen werden zwei Werke aufgeführt, die jeweils Höhepunkte ihrer Epoche und Gattung darstellen. Darüber hinaus soll an diesem Abend die Wahrnehmung von Musik um einen Aspekt vergrößert werden: in Zusammenarbeit mit dem JugendTanzTheater Stuttgart / Reutlingen unter Leitung von Renate Mach soll das Hören im Konzert erweitert werden zu einem „Schauen“ von Musik, wie es in Tanz und Ballett, also der Umsetzung von Klang und Bewegung möglich wird.
Igor Strawinsky (1882 – 1971)
Apollon musagète, Ballett in 2 Aufzügen
Das 1928 komponierte und 1947 neu bearbeitete Ballett in 2 Aufzügen „Apollon musagète“ von Igor Strawinsky erzählt die Geschichte des Gottes Apollon, der die Musen Calliope, Polyhymnia und Terpsichore in den Künsten unterweist:
Calliope, die Muse der Dichtkunst und ihrer rhythmischen Gesetze, Polyhymnia, Beherrscherin der Gebärdenkunst und des Ausdrucks ohne Worte, und Terpsichore, die diese beiden Fähigkeiten vereint und daraus die Kunst des Tanzes entstehen lässt.
Der erste dreigeteilte Aufzug des Balletts beschreibt die Geburt von Apollon. Einer langsamen, lyrisch gestimmten Einleitung (Largo) folgt die Darstellung der Geburt (Allegro), bevor die wieder aufgenommene Eingangsstimmung (Tempo primo) den ersten Teil beschließt.
Der zweite Aufzug ist die Folge einzelner Variationen der beteiligten Personen, wobei die erste Variation Apollon selbst gewidmet ist. Das ganze Orchester stellt das Spiel der Laute dar, über das sich Apollon in Gestalt der Solovioline tänzerisch erhebt.
Nun treten die 3 Musen auf, die sich zunächst mit Apollon im Tanz verbinden (Pas d’action) und anschließend jeweils ihre Solovariation tanzen: Calliope macht den Anfang und versucht Apollon mit einer leichten und wiegenden Musik zu beeindrucken (Allegretto). Darauf folgt Polyhymnia mit einer rasant virtuosen Variation. Die dritte Variation gehört Terpsichore, deren Tanz den Vorstellungen des Gottes am meisten entspricht.
Kräftig zupackend mit Fortissimo-Akkorden beginnt der Gott nun seine zweite Variation zu tanzen (Lento), bevor er sich mit Terpsichore im inngen Pas de deux vereinigt.
Die abschließende Apotheose summiert noch einmal einige der musikalischen Elemente des ganzen Balletts. Neben den kraftvollen Akkorden ist es eine „unendliche“ Melodie, die – umspielt vom Rhythmus der Eingangssequenz – den zweiten Aufzug in größter Ruhe und Stille beschließt.
Johann Sebastian Bach (1685 – 1750)
Aus „Musikalisches Opfer“ BWV 1079 Ricercar a 6
Das „Ricercar a 6“ aus der Sammlung „Musikalisches Opfer“ von Johann Sebastian Bach lenkt den Blick auf die Person des langjährigen Thomaskantors in Leipzig und die musikalische Epoche des Barock.
In Bachs Werken vereinigen sich traditionelle mit fortschrittlichen musikalischen Formen in einer Modernität, die seine Zeitgenossen immer wieder erstaunen ließ.
Eine dieser Formen, in der Bach eine nie zuvor und nie danach gekannte Meisterschaft erreichte, ist die Fuge.
Hier wird ein Thema in einer Stimme vorgestellt und anschließend nach strengen Regeln durch die anderen, meist insgesamt vier Stimmen geführt, wobei das Thema stets zu erkennen bleibt.
Diese im Barock zur Hochblüte gekommene Art des Komponierens fordert vom Komponisten einen hohen Grad an Disziplin, um den formalen Verlauf nicht aus den Augen zu verlieren; umso mehr beim „Ricercar a 6“, da es sich hier um eine Komposition mit sechs gleichberechtigten Stimmen handelt.
Die Entstehung der Sammlung „Musikalisches Opfer“ ist ausführlich dokumentiert, da sie einem Besuch Bachs am Potsdamer Hof Friedrichs des Großen zu verdanken ist.
Der königliche Herrscher gab das vermutlich von Bach später noch etwas modifizierte Fugenthema dem berühmten Musikus als Improvisationsaufgabe. Bachs Aufgabe war es, aus diesem Thema eine möglichst kunstvolle Fuge zu improvisieren, ein „Gesellschaftsspiel“, das durchaus eine gewisse Tradition hatte.
Nach Bachs Rückkunft in Leipzig komponierte und veröffentlichte er das Opus, das mittlerweile zu einer umfangreichen Sammlung verschiedener Bearbeitungen dieses einen Themas angewachsenen war.
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791)
Sinfonie Nr. 38 D – Dur „Prager“ KV 504
Johann Sebastian Bachs Sohn, Johann Christian Bach, war es, der Mozart in den ersten Jahren seines Schaffens als ein wichtiges Vorbild diente. Dann erreichte Mozart in der Mitte seines kurzen Lebens eine neue persönliche Ausdrucks – und Gestaltungsweise, die bis dahin nicht vorstellbar war. In seinen reifsten Werken – so auch in der „Sinfonie in D“ – offenbart Mozart die beiden Gesichter seiner Epoche: das streng klassische, seiner Zeit entsprechende und das moderne, der romantischen Epoche zugewandte.
Anlässlich einer bevorstehenden Reise nach Prag, wo seine Oper „Die Hochzeit des Figaro“ großen Erfolg erzielt hatte, komponierte Mozart Ende des Jahres 1786 diese Sinfonie. Sie wurde dort am 19. Januar 1787 uraufgeführt und erhielt daher den Beinamen “ Prager Sinfonie“.
Einer von den Streichern dominierten langsamen Einleitung (Adagio), geprägt von abrupten Wechseln zwischen forte und piano und weitgehender Chromatik, folgt der schnelle Kopfsatz (Allegro) mit stark rhythmischen Motiven, deren strahlende D – Dur – Kraft durch Pauke und Trompete hervorgehoben wird.
Der zweite Satz (Andante) nimmt die aus der Einleitung bekannte Chromatik wieder auf und führt sie weiter aus zu einer Melodie, die einen mit ihrem langen Atem in den Bann zieht.
Das Fehlen eines dritten, traditionell als Menuett überschriebenen Satzes, hat Anlass zu allerlei musikhistorischer Spekulation gegeben, ohne freilich eine verbindliche Erklärung zu liefern.
Das Finale (Presto) nimmt das strahlende D – Dur des Kopfsatzes wieder auf und erreicht nicht zuletzt durch sein rasantes Tempo und die zahlreichen „Dreiklangsraketen“ den Charakter eines echten „Kehraus“, der die Zuhörer aus dem Jubiläumskonzert verabschieden soll.
JugendTanzTheater (JTT)
Das JTT wurde 1997 von der in Stuttgart lebenden Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Renate Mach gegründet. Das JTT hat derzeit eine Mitgliederstärke von 15 jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 23 Jahren. Das JTT hat seit seiner Gründung pro Spielzeit vier neue Produktionen herausgebracht (1999: Crazy Clips; 2000: soirée française; 2001: performArt3; 2002: encounter4dance) mit insgesamt 16 (!) eigenständigen Stücken.
Das JTT arbeitet projektbezogen, jede Produktion wird mehrmals in der Tanzregion Stuttgart aufgeführt. Spielorte waren und sind u.a. das Produktionszentrum für Tanz und Performance in Stuttgart, Foyer U3 in Reutlingen, Central Theater in Esslingen, Münsterklinik Zwiefalten, Konventbau. Gastspiele führten das JTT bis nach Magdeburg und Halle.
Theater und Tanz sollen für die Mitwirkenden des JTT erlebbar gemacht werden, Kunst und Kultur im alltäglichen Leben ihren Platz finden. So selbstverständlich wie Jugendliche im Verein Fußball spielen oder ein Instrument erlernen, so selbstverständlich sollte der Gang ins Theater oder zur mehrmaligen wöchentlichen Probe werden.
Theaterspielen und Tanzen tragen zur Persönlichkeitsbildung junger Menschen positiv bei. Die Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Projekt fördert die eigene Kreativität durch Bewegung und Darstellung. Verantwortung wird übernommen für das Gelingen von der Themenauswahl über die Organisation bis hin zur Darstellung und Inszenierung auf der Bühne. Die Zusammengehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gibt Halt, Schauspiel und Tanz auf einer Bühne und der Applaus des Publikums stärken das Selbstbewusstsein.
Die Leiterin des JTT, Renate Mach, wurde zur Tänzerin an der Staatlichen Akademie in München / Heinz–Bosl-Stiftung (Konstanze Vernon) ausgebildet. Mehrjährige Engagements als Tänzerin am Staatstheater am Gärtnerplatz in München und „Tanzprojekt München“ folgten. Seit 1980 arbeitet Renate Mach als freie Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin in Süddeutschland. Zahlreiche Choreografieaufträge für freie Gruppen, Gestaltung von Vernissagen und Events, die Zusammenarbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern und eigene Auftritte als Tänzerin prägen ihre Arbeit.
Das JTT ist ein Forum, in dem kulturinteressierte Jugendliche professionelle Tänzer, Schauspieler und Choreografen kennen lernen und mit ihnen zusammenarbeiten. Dieser persönliche Kontakt nimmt der Theaterwelt den Mythos etwas besonderes zu sein.
Sofort nach der Uraufführung bot Strawinsky das Ballett Diaghilew und seinen Ballets Russes an, und George Balanchine schuf daraus eine Choreographie, welche wegweisend unter dem Begriff des ‚Neoklassizismus‘ für eine ganze Generation von Choreographen werden sollte.
Das JugendTanzTheater ist ein TanzTheater für Amateure. Mit der von uns erarbeiteten Choreographie von ‚Apollon‘ maßen wir uns nicht an, mit Balanchine wetteifern zu wollen. Unsere Aufgabenstellung war, zu der Musik von Strawinsky ein Stück zu gestalten, welches von vier (!) jungen Frauen getanzt wird, die musikalische Intention aufgreift und trotzdem eine andere Geschichte erzählt.
Apollon verkörpert die Vorherrschaft des männlichen Prinzips in der Kunst, die weiblichen Musen erhalten erst durch ihn ihre Bestimmung. Ein wenig vereinfacht könnte man dies auf die Lebenssituation von jungen Frauen übertragen: erst durch die Definition des Mannes erhalten Frauen ihre Stellung und ihren Stellenwert in der Gesellschaft. Calliope, Polyhymnia und Terpsichore werden so zur Heiligen, Mutter und Hure. Das Hinaustreten des (weiblichen) Kindes aus seiner Kindheit hinein in die Welt der Erwachsenen wird als starke Reglementierung erfahren, die kindliche Spontaneität, das Ausleben von Emotionen, die Unbekümmertheit und Sorglosigkeit weicht dem Kampf um den Platz in der Gesellschaft. Die überwiegende Zahl der Mitglieder des JTT’s befindet sich in dieser Phase des Übergangs. ‚Wer bin ich? Was will ich? Warum lebe ich?‘ ist die aktuelle Fragestellung, die von Dritten veranlasste Rollenzuweisung, die eigene Selbstfindung, das Hinterfragen und Aufdecken von scheinbar Selbstverständlichem und Bekanntem ist Thema unserer Interpretation von Apollon. Strawinsky führt seine Musen in der ‚Apotheose‘ auf den Ruf des Göttervaters Zeus hin zum Olymp. Auch wir fassen uns in der ‚Apotheose‘ an den Händen: aber wir bleiben auf der Erde, lebendig, anpackend, und nicht vergeistigt.